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Smart Werden

25 Okt. 2023

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Technologie-Historikerin Orit Halpern erweitert in ihrem Essay das Konzept von Smartness, welches Lawrence Leks Worldbuilding in NOX zugrunde liegt

Weltweit streben zahlreiche Städte nach Smartness — Berlin, Dubai, Singapur, New York, Nanjing. Diese Spekulationen basieren auf einer regelmäßig wiederholten Verfahrensweise, die für gewöhnlich durch Planer:innen, politische Entscheidungsträger:innen, große Entwicklungsunternehmen und Technologiekonzerne durchgeführt wird. Um eine Stadt smart zu machen, muss in der Regel ein dichtes Netzwerk von Sensoren aufgebaut werden. Diese sind oft in und um herkömmliche, sich im gesamten urbanen Umfeld ausbreitende Infrastrukturen integriert, etwa Verkehrssysteme, Stromnetze und Wasserleitungen. Darüber hinaus bemüht sich die Stadt um die dezentrale Mitwirkung ihrer Bewohner:innen durch aktive technologische Mittel, etwa Smartphone-Apps. Schließlich kommen Hochleistungscomputer und lernende Algorithmen mit dem Ziel zum Einsatz, die gesammelten Daten zu analysieren und die technischen, sozialen und politischen Prozesse im urbanen Raum zu optimieren. All dem geht meist Spekulationskapital voraus, welches durch ausgeklügelte Marketingkampagnen und natürlich auch durch die geheimnisvollen Mechanismen der Immobilienentwicklung generiert wird. Staatsfonds, Hedgefonds, unfassbare Mengen an fremdfinanzierten Vermögenswerten und Futures-Trading sind allesamt daran beteiligt, das städtische Territorium für die Datenaufbereitung verfügbar zu machen. Smartness ist zur neuen Herausforderung für die Kontrolle über Kapital und Raum geworden.

Städte sind seit jeher von zentraler Bedeutung für Geopolitik, Technologie und Vorstellungen menschlicher Subjektivität und Handlungskraft. Der englische Begriff city leitet sich von der lateinischen civitas ab, die im Kontext des antiken Roms den kollektiven Körper der Bürger:innenschaft bezeichnete, vereint durch Gesetz und gesellschaftliche Verantwortung. In der westlichen Tradition wurde die Stadt als Sitz des demos, d. h. der Bevölkerung, und der polis, also des Stadtstaats, imaginiert, wo Mensch und Natur voneinander getrennt waren. Diese Spaltung ist zentral für das Konzept des Politischen als Domäne menschlicher Tätigkeit, und der Stadt als Ort der Verwirklichung menschlicher Handlungsfähigkeit und Politik.

Smartness beruht auf der grundlegenden Annahme, dass diese Vorstellungen menschlicher Handlungsmacht und räumlicher Eindämmung heute obsolet sind. Die zentrale Idee künstlicher Intelligenz (KI) ist, dass Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre Handlungsfähigkeit autonom und ohne eine neue Form der Natur — allem voran der Technologie — durchzusetzen. Wir können also davon ausgehen, dass Smart Citys ältere Konzepte des Urbanen nicht replizieren werden.

Vielleicht ist es ein Kennzeichen dieser neuen Art des Territoriums, dass eine Smart City nicht mit einer utopischen – oder sogar einer bestimmten – ‚Form‘ der Stadt gleichbedeutend ist, auch wenn das nicht intuitiv erscheinen mag. Die Smart City besitzt in absehbarer Zukunft keine stabile Idealform. Sie entwickelt sich über Daten stetig weiter und ist daher zu Speziation und Mutation fähig. Es gibt keinen Endpunkt für die Smart City, denn sie ist unendlich erweiterungsfähig und wandelbar. In diesem Sinne unterscheidet sich die Smart City völlig von utopischen Städten, wie sie in der Moderne unter der Annahme erdacht wurden, eine bestimmte Form — so etwa Le Corbusiers ville radieuse, die strahlende Stadt, die konzentrischen Kreise von Ebenezer Howards Gartenstädten oder Oscar Niemeyers und Joaquim Cardozos Planstadt Brasília — könne ein spezifisches Ziel ermöglichen. Zu diesen Zielen gehörten etwa die Integration der Menschen in Naturprozesse, koloniale Herrschaft, Wirtschaftswachstum, die Vermehrung des kollektiven Glücks oder demokratisch-politische Teilhabe. Vielmehr ist eine Stadt dann smart, wenn sie die Fähigkeit erlangt, sich auf jede neue und unerwartete Gefahr und Möglichkeit einzustellen, die aus ihren ökologischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umständen hervorgehen können – eine Befähigung, die in Planungsdokumenten im Allgemeinen als Resilienz bezeichnet wird. Kurz gesagt ist eine Smart City ein Ort kontinuierlichen Lernens, und eine Stadt ist smart, wenn sie dazu die Fähigkeit besitzt. In einer Smart City werden Vorstellungen einer gesteuerten und handelnden politischen Revolution durch eine reaktionsfähige Evolution ersetzt.

Da die Smart City ständig in Anpassung begriffen ist, müssen sich die in ihr lebenden Menschen ebenso anpassen. Die Bewohner:innen einer solchen Stadt werden zwangsläufig zu Dauerlernenden. Jedoch soll die Smartness der Smart City ihren Bewohner:innen nicht von oben auferlegt werden, sondern sich vielmehr aus der Kombination einzigartiger individueller Perspektiven und Entscheidungen ergeben. Smartness setzt voraus, dass solche Verbindungen nicht von Menschen allein geleistet werden können, sondern die Unterstützung von Computern benötigen – genauer gesagt, von Algorithmen, die der Smart City (und ihren Bewohner:innen) neue Wege des Lernens vermitteln. Ähnlich wie ‚Der Markt‘ der neoliberalen Wirtschaftstheorie schafft Smartness Prozessoptimierung, indem sie multiple Perspektiven in einer Weise verknüpft, die keine menschliche Planungsgruppe erreichen könnte. Für manche Befürworter:innen ermöglicht die Fähigkeit der Smartness, Kombinationen vieler individueller Perspektiven zu automatisieren, die Vorstellung, dass Politik – jenes chaotische Reich des Eigeninteresses, oft nur wenigen Auserwählten voll zugänglich – durch Technologien ersetzt werden könnte. Diese technologischen Prozesse könnten dann vielleicht das erreichen, was Demokratie nur verspricht.

Smartness gründet damit auf der Annahme, dass den Menschen nur unvollständige Informationen zur Verfügung stehen und sie daher Führung benötigen, etwa durch den Markt, heute durch soziale Netzwerke, oder vielleicht durch den Staat. In neoliberalen Regimen wird von solchen Netzwerken angenommen, sie seien selbstorganisiert und „frei“, aber niemals geplant (und schon gar nicht von der Regierung). In Lawrence Leks sinofuturistischem Universum nehmen solche Vorstellungen den umgekehrten Weg, womöglich gelenkt durch bürokratische Grundsätze, aber dennoch auf der Grundlage von Daten und über Netzwerke aus der Bevölkerungsebene. Smartness bedeutet Teilhabe, aber nicht unbedingt Repräsentation oder Ermächtigung. Die Utopie kann niemals erreicht, sondern lediglich versioniert werden.

Der Traum von Smartness als Weg zur Freiheit (oder Souveränität) durch Überwachung und Dauerlernen ist das Kennzeichen zeitgenössischer politischer Ökonomien (Plattformen), Geopolitiken und individueller Selbstgestaltung. Aktuelle Initiativen wie etwa die Digitale Seidenstraße, smarte Grenzsysteme, Desinformationskampagnen und Quantified-Self-Apps sind nur einige der Systeme und politischen Taktiken jenseits der Städte, die diese zeitgenössische technische Situation veranschaulichen.

Man könnte sagen, dass Lernen für smarte Maschinensysteme keine Bildung ist. Beim Lernen geht es um Verhaltensweisen und Aufgaben. Unsere Narrative und Geschichten von Empfindung, Empathie und Mitgefühl werden in statistische Profile verwandelt, bestimmt von Schlagwörtern und Phrasen, und wiederum dazu gebraucht, Menschen und Maschinen in Hass, Liebe, Fürsorge etc. zu trainieren. Diese Umwandlung in eine Welt der Netzwerke auf Grundlage des Behaviorismus macht unsere Konditionierung zu eben der Substanz, die zwischen uns selbst und unseren gewaltigen technischen Systemen besteht. Solche Überlegungen sind in den tieferliegenden Schichten von Leks Worldbuilding in NOX erkennbar. Sprachprotokolle lassen langsam ein Gefühl für die smarte Infrastruktur entstehen, die im Hintergrund arbeitet – eine Form der Kontrolle, die sich in den als akzeptabel oder abnorm geltenden Parametern zeigt. Ferner hat Lek bestimmte Interaktionsmodi in die Strukturen des lokativen Sounderlebnisses und der Trainingssimulation eingebettet, welche ihrerseits eine Verhaltenskonditionierung beinhalten.

Was es heißt, trainiert zu werden und zu lernen, ist eine zentrale Frage, wenn es darum geht, welche Formen des Lebens und Seins existieren und gedeihen dürfen. Ist das Lernen ein Modus der Verhaltenskonditionierung und des Trainings, ausschließlich auf zielorientiertes Verhalten ausgerichtet? Oder ist es etwas anderes? Letztlich müssen wir uns der Herausforderung stellen und neue Wege ermitteln, wie wir durch unsere kollektiven Beziehungen zu menschlichen und nicht-menschlichen Akteur:innen und über die Parameter unserer eigenen Konditionierung hinaus lernen und neue Verbindungen zu Anderen – Maschinen, Menschen und Tieren – in unserer Welt bauen können.

Biografien

02

Autorin

Orit Halpern

Künstler

Lawrence Lek

Zugehöriges Event

01
Installation|27. Oktober 2023 — 14. Januar 2024

Lawrence Lek : NOX