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Im Gespräch: Dr. Richard Davidson & Gesine Borcherdt

Den Rahmen dieses Gesprächs bildet die Ausstellung Light and Space (Kraftwerk Berlin) des Künstlers Robert Irwin

15 Feb. 2022

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Gesine Borcherdt, Kunstkritikerin und Kuratorin im Interview mit Dr. Richard Davidson, Neurowissenschaftler und Meditationsexperte über Kunst, Achtsamkeitsmeditation und Neuroplastizität

LAS ist eine junge Berliner Kunstplattform mit globaler Ausrichtung an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Mit experimentellen Projekten an unkonventionellen Orten überschreitet LAS die Grenzen von Konventionen und Disziplinen.

Den Rahmen dieses Gesprächs bildet die Ausstellung des amerikanischen Künstlers Robert Irwin im Kraftwerk Berlin. Seine ortsgebundene Installation lädt das Publikum ein, genau hinzusehen. Sehen und Wahrnehmen sowie die besondere Rolle der Betrachtenden stehen im Zentrum der künstlerischen Arbeit von Robert Irwin. Irwins Arbeit ermöglicht, Wahrnehmungsprozesse und die Verbindung von Sehen und Wahrnehmen mit dem ganzen Körper nachzuvollziehen. Dabei ist Sehen für ihn nicht nur visuell, es geschieht mit allen Sinnen; und Wahrnehmen schließt eine wertschätzende Haltung gegenüber all dem ein, was uns umgibt. Irwin hat ein ganzheitliches Verständnis davon, was Kunst ist und was Kunst bewirken kann. In seiner künstlerischen Praxis geht es um die unmittelbare Erfahrung und darum, mit dem Kunstwerk und seiner Umgebung in Beziehung und in Dialog zu treten, auch über den institutionellen Raum hinaus.

LAS nahm die Idee des Dialogs auf und lud Gesine Borcherdt ein, mit Dr. Richard Davidson über Kunst, Achtsamkeitsmeditation und Neuroplastizität zu sprechen.

„In unserer Kultur bevorzugen wir Worte als zentrale Ausdrucksform. [...] Ich betrachte die Kunst im Allgemeinen als ein Mittel, mit dem wir über diese enge Ausdrucksweise hinausgehen können, die in unserer Kultur privilegiert ist. Es handelt sich um eine Sprache, die auf einer konzeptionellen Ausdrucksweise basiert. Bei der Meditation lernen wir die Fähigkeiten, über eine konzeptionelle Wertschätzung oder ein Verständnis der Welt hinauszugehen.“

– Richard Davidson

Gesine Borcherdt: Kunst und Meditation haben offenbar einige Dinge gemeinsam. Natürlich geht es bei beiden um Wahrnehmung. Meditation schärft unsere geistigen und körperlichen Sinne und Kunst idealerweise ebenso. Sie können uns dazu bewegen, innezuhalten und klarer zu sehen, zu fühlen und zu denken, uns unseres Körpers und des Raums um uns herum und sogar der Welt, in der wir leben, bewusster zu werden. Beide erweitern unsere Perspektiven und beide haben einen spirituellen Hintergrund. Der Ursprung der Achtsamkeitsmeditation liegt im Buddhismus und Kunst entstand ursprünglich in einem religiösen Kontext. Nehmen wir als Beispiel die farbigen Glasfenster in mittelalterlichen Kirchen, die religiösen Gemälde oder die japanische Teezeremonie als vielleicht augenfälligste Form der Kombination beider Disziplinen. Als die Minimal Art in den 60er Jahren aufkam – interessanterweise zur selben Zeit, als die buddhistische Meditation im Westen bekannt wurde – gewannen die Parameter von Raum, Körper und Wahrnehmung an Bedeutung. Das Buch Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) von Maurice Merleau-Ponty war damals äußerst einflussreich. Die Arbeit von Robert Irwin beschäftigt sich jetzt mit dieser Parallele zwischen Kunst und Meditation. Irwin war sehr an Meditation interessiert, praktizierte und experimentierte damit. Dr. Davidson, wie schätzen Sie diese Überschneidung zwischen Kunst und Meditation ein? Sie haben als Erster Meditation und Neurowissenschaften kombiniert, was in den 90er Jahren ein völlig neuer Ansatz war. Glauben Sie, dass Sie auch Kunst einbringen können?

Richard Davidson: Im Laufe meiner Karriere habe ich mit vielen Künstler:innen auf verschiedene Arten zusammengearbeitet. Bildende Künstler:innen, Musiker:innen, Tänzer:innen, eine Vielzahl von verschiedenen Künstler:innen. Es gibt zweifellos sehr wichtige Bereiche der Annäherung, die ich für äußerst wichtig und interessant halte. Ich denke auch, dass es einige wichtige Bereiche mit Unterschieden gibt. Das Thema bietet sehr viel Raum, den es zu erforschen gilt. Ich schätze an der Kunst im Allgemeinen, dass sie eine Möglichkeit des Ausdrucks bietet, die nicht nur aus Worten besteht. In unserer Kultur bevorzugen wir Worte als zentrale Ausdrucksform. Mit Worten müssen wir Konzepte bilden, und Konzepte sind für unsere Fähigkeit, uns in der Welt zurechtzufinden, eindeutig von Vorteil. Sie halten uns aber auch gefangen, denn unsere Realität wird im wahrsten Sinne des Wortes durch diese Konzepte definiert. Ich betrachte die Kunst im Allgemeinen als ein Mittel, mit dem wir über diese enge Ausdrucksweise hinausgehen können, die in unserer Kultur privilegiert ist. Es handelt sich um eine Sprache, die auf einer konzeptionellen Ausdrucksweise basiert. Bei der Meditation lernen wir die Fähigkeiten, über eine konzeptionelle Wertschätzung oder ein Verständnis der Welt hinauszugehen. Die Meditation lädt uns unter anderem dazu ein, die Konzepte, an denen wir festhalten – Konzepte, die eine Realität definieren und so unsere Realität beseitigen – wirklich zu erforschen, aus eigener Erfahrung zu durchschauen. Ich glaube, dass Kunst diese alternative Ausdrucksform bietet, die unsere Erfahrungen in der Meditation ergänzt. Es kann durchaus wertvoll sein „uns aus unseren Köpfen zu befreien“, um mal eine metaphorische Formulierung zu verwenden – denn unsere Konzepte und unsere Sprache bestimmen so maßgeblich unsere Erfahrung der Welt.

Gesine Borcherdt: Offenbar können wir von der Meditation und auch von der Kunst profitieren, indem wir Konzepte hinter uns lassen. Wie sieht dieser Nutzen im Hinblick auf die Neuroplastizität aus? Wie wirkt sich das „uns aus unseren Köpfen befreien“ auf unser Gehirn aus?

Richard Davidson: Eine wichtige Erkenntnis über die Neuroplastizität ist, dass sie gewollt oder ungewollt stattfindet. Sie geschieht die ganze Zeit. Unser Gehirn wird laufend von den Kräften um uns herum geformt, und die meiste Zeit sind wir uns dieser Kräfte nur am Rande bewusst. Normalerweise haben wir sehr wenig Kontrolle über diese Kräfte. Meditation lädt uns dazu ein, mehr Verantwortung für unsere eigene Neuroplastizität zu übernehmen. Wir können unser Gehirn bewusster formen, anstatt es Kräften zu überlassen, über die wir keine Kontrolle haben. Die Wissenschaft zeigt, dass sich unser Gehirn verändert, wenn wir gesunde geistige Verhaltensweisen und bestimmte Tugenden in unserem Geist kultivieren. Diese Veränderungen im Gehirn - so glauben wir aufgrund immer mehr wissenschaftlicher Erkenntnisse - unterstützen die dauerhaften Veränderungen, die aus solchen Praktiken entstehen können. Das ist sehr wichtig. Das letzte Buch, das ich zusammen mit Dan Goldman geschrieben habe, heißt Altered Traits (2017). Veränderte Charakterzüge sind unsere Wahl, denn das ultimative Ziel der Meditation ist nicht irgendeine angenehme Erfahrung beim Sitzen auf dem Kissen, sondern die Transformation unseres Lebens, seine dauerhafte Umwandlung. Wir bezeichnen einen Charakterzug als etwas, das im Laufe der Zeit bestehen bleibt. Dadurch werden die Kraft und das Potenzial der Neuroplastizität voll ausgeschöpft.

Gesine Borcherdt: Transformation ist ein wichtiger Begriff für Künstler:innen, da alles, was sie tun, eine Transformation ist – nicht nur beim Umgang mit Materialien. Sie können unsere Denkweise auf ähnliche Weise wie die Meditation verändern, wie Sie es gerade beschrieben haben. Sie haben mit Ihren wichtigen Experimenten, die Sie mit tibetischen Mönchen durchgeführt haben, zum ersten Mal bewiesen, wie Meditation das Gehirn als Organ, als organisches Material, vom Standpunkt eines Bildhauers aus gesehen, regelrecht verändern kann – und dass sich das Gehirn während unseres gesamten Lebens verändern kann. Können Sie uns etwas über diese bahnbrechenden Experimente erzählen?

Richard Davidson: Ja, natürlich. Wir hatten schon früh in dieser Forschungsarbeit einige Gespräche mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama. Der Dalai Lama hat uns dazu angeregt, die in seiner Tradition üblichen Praktiken zu erforschen, mit denen die Menschen ihren Geist durch systematische Meditation schulen. Wir fanden diesen Ansatz sehr gut. Wenn wir diese langjährig praktizierenden Mönche untersuchen könnten, die ihren Geist jahrzehntelang trainiert haben, müssten wir eigentlich einen Unterschied in ihren Gehirnen feststellen. Sollte dies nicht der Fall sein, würden wir höchstwahrscheinlich auch keine Veränderungen im Gehirn jüngerer Praktizierender sehen.

Wir begannen die Studie also im Jahr 2001. Im Laufe der nächsten Jahre haben wir eine Gruppe von langjährig praktizierenden Mönchen ins Labor geholt, um zu untersuchen, was sich in ihren Gehirnen verändert haben könnte. Und tatsächlich konnten wir einige tiefgreifende Unterschiede feststellen. Die allererste wissenschaftliche Arbeit, die wir über diese Mönche veröffentlicht haben, erschien im Jahr 2004. Dieser Artikel wurde hunderte Male zitiert und war maßgeblich an der Entstehung dieses gesamten Forschungsbereichs beteiligt. Wir haben festgestellt, dass diese Mönche eine Art Oszillation in ihren elektrischen Aufzeichnungen des Gehirns aufwiesen, die bei jedem Menschen vorkommt. Allerdings sind die Gamma-Oszillationen bei den meisten von uns normalerweise sehr kurz: weniger als eine Sekunde. Und sie treten in der Regel nur gelegentlich auf. Aber bei diesen Mönchen waren sie die ganze Zeit der Meditation über vorhanden. Sie waren auch in ihrem Grundzustand vorhanden und sogar beim Schlafen! Dies war eine äußerst wichtige Entdeckung. Das hat uns und die wissenschaftliche Gemeinschaft davon überzeugt, dass es dort wirklich etwas zu Entdecken gab. Da war ein „da!“, wenn man so will. Das deutet darauf hin, dass das Meditationstraining ihr Gehirn erheblich beeinflusst hat, was durchaus eine wissenschaftliche Untersuchung wert ist.

„Meditation wurde entwickelt, damit wir erwachen und das volle Ausmaß unseres menschlichen Daseins erkennen.“

– Richard Davidson

Gesine Borcherdt: Glauben Sie angesichts der Erkenntnisse, dass Meditation und Achtsamkeitspraktiken unser Gehirn offener, neugieriger und kreativer machen?

Richard Davidson: Nun, eine der wichtigsten Erkenntnisse unserer Arbeit betrifft die Frage, zu welchem Zweck Meditation entwickelt wurde. Sie wurde nicht entwickelt, damit wir neugieriger werden. Sie wurde entwickelt, damit wir erwachen und das volle Ausmaß unseres menschlichen Daseins erkennen. Sie wurde nicht entwickelt, damit wir uns besser fokussieren können, um Krankheiten zu heilen oder um unsere Ängste zu verringern – sondern um ein Erwachen herbeizuführen, damit wir uns im größtmöglichen Ausmaß als Mensch entfalten können.

Was heißt das? Wir haben daher einen Rahmen entwickelt, der sowohl von kontemplativen Traditionen als auch von der wissenschaftlichen Forschung geprägt ist, um die Elemente des Wohlbefindens zu definieren. Wir haben die folgenden vier wichtigen Elemente festgelegt: Die erste Säule ist das Bewusstsein. Bewusstsein beinhaltet das, was man als Offenheit bezeichnet, die Fähigkeit, alles in der eigenen Umgebung, sowohl im Äußeren als auch im Inneren, im Körper und im Geist vollständig wahrzunehmen. Die zweite Säule nennen wir Verbindung. Bei Verbindung geht es um die für gesunde soziale Beziehungen wichtigen Eigenschaften: Freundlichkeit, Wertschätzung, Mitgefühl – jene Eigenschaften also, die das maximale Potenzial in der sozialen Interaktion entfalten können. Die dritte Säule ist das Wohlbefinden, oder das Aufblühen. Wir nennen es Einsicht, und bei der Einsicht geht es um Selbsterkenntnis. Hier betrachten wir es als eine von Neugierde getriebene Selbsterkenntnis, um das, was wir das Selbst nennen, wirklich zu verstehen.

Was ist das Selbst und wie prägt es unsere Erfahrung der Realität? Wenn wir das tiefgreifend und aus eigener Erfahrung verstehen, können wir den Griff lockern, in dem uns das Selbst festhält. Denn das Bild, das jeder von sich selbst hat, ist wie ein Satz kognitiver Scheuklappen. Es schränkt unsere Erfahrungen mit der Welt ein. Wenn wir das begreifen, ist das befreiend!

Die Aufforderung lautet hier also nicht unbedingt, das Bild zu ändern, sondern unsere Beziehung zu diesem Bild zu ändern, um das Bild als das zu sehen, was es ist – nämlich eine Konstellation von Gedanken.

Die letzte Säule des Aufblühens ist die Bestimmung. Bei der Bestimmung geht es darum herauszufinden, wohin unser Leben führen soll – unsere Werte mit unserem Gespür für Bestimmung zu verbinden und unser alltägliches Verhalten so zu gestalten, dass immer mehr von unserem alltäglichen Verhalten tief mit unserem Gespür für Bestimmung verbunden ist. Können Sie sich eine Zeit vorstellen, in der das Abwaschen von Geschirr oder das Rausbringen des Mülls bei Ihnen zu Hause eng mit Ihrem Gespür für Bestimmung verbunden ist? Es gibt keine Trennung. Es gibt nichts, was zweckmäßiger wäre, denn alles, was Sie tun, ist von demselben Gespür für Bestimmung durchdrungen. Das sind die Elemente, die Kernelemente des menschlichen Aufblühens. Die Meditation soll in ihrer authentischen Form all diese Säulen aktivieren. Auf diese Weise können wir unser Potenzial als Menschen verwirklichen.

Gesine Borcherdt: Das bedeutet im Grunde, dass Meditation nicht nur eine kontemplative Praxis auf einem Kissen ist, sondern auch eine aktive Praxis, die wir im wirklichen Leben ausüben.

Richard Davidson: Ja, das Ausüben auf dem Kissen ist eine Vorbereitung auf das Ausüben in der realen Welt. Die Praxis auf dem Kissen hilft, diese Qualitäten – Bewusstsein, Verbindung, Wohlbefinden und Bestimmung – spontan in unserem Alltag entstehen zu lassen. Die meisten Menschen würden sagen, dass diese Qualitäten wichtig für sie sind, aber sie vergessen sie sozusagen im Eifer des Gefechts. Wir alle wissen, was gut für uns ist, aber wir tun es nicht, weil wir vergessen, es richtig zu tun. Der Grund, warum wir unseren Hintern auf das Kissen setzen, besteht darin, dass wir uns so leichter erinnern können.

Gesine Borcherdt: Das Hinsetzen auf ein Kissen ist also ein Ritual, das wir zur Erinnerung an eine Pause brauchen. Wir haben heute in unserer westlichen Welt nicht viele Rituale, vielleicht weil sie eine spirituelle Komponente beinhalten. Kunst war früher sehr eng mit Ritualen verknüpft, und irgendwie ist sie das immer noch. Wir brauchen eine regelmäßige Praxis, und beim Schaffen von Kunst ist oft sogar der Rhythmus wichtig, der die Künstler in einen meditativen Zustand versetzt. Kann Kunst auch eine Erinnerung an eine Pause sein?

Richard Davidson: Ihre Intuition, Kunst als Erinnerung zu betrachten, ist sehr gut. In der klassischen Definition von Achtsamkeit gibt es nämlich ein entscheidendes Element des Erinnerns: das Erinnern daran, eine bestimmte Sichtweise oder Perspektive in jede Interaktion, in jeden noch so kleinen Winkel unseres Alltagslebens einzubringen, und zwar insofern, als die Kunst uns beim Erinnern helfen kann. Das könnte äußerst wertvoll sein.

Gesine Borcherdt: Meditation kann uns offensichtlich zu besseren Menschen, zu netteren Persönlichkeiten machen. Mit ihrem humanistischen Ansatz strebt Kunst das auch an. Genau wie bei der Meditation kann sie bestimmte Eigenschaften wie Toleranz und Verbundenheit auslösen.

Richard Davidson: Meditation ist in einen ethischen Kontext eingebettet, auch wenn sie in einem säkularen Rahmen stattfindet. Das ist sehr wichtig. Der ethische Kontext dreht sich um Nicht-Verletzung und Freundlichkeit. Ich glaube nicht, dass man Meditation außerhalb dieses Kontexts effektiv lehren kann, denn das würde einen Teil der zentralen Absicht der Praxis untergraben. Steht die Kunst immer in einem ethischen Zusammenhang? Ich weiß es nicht. Und wenn man sich die persönlichen Eigenschaften von Künstler:innen und ihrem Leben anschaut, verkörpern sie dann die Freundlichkeit und das Mitgefühl, die wir in einem großen spirituellen Lehrer erkennen könnten? Ich weiß es nicht. Ich glaube, das sind wichtige Fragen. Ich habe viele Freund:innen, die Künstler:innen sind und spreche offen mit ihnen darüber. Dabei wird klar, dass Kunst und Meditation nicht dasselbe sind. Sie könnten sich ergänzen und gegenseitig verstärken. Ich denke, dass beide wichtig und wertvoll sind und dass das eine kein Ersatz für das andere ist.

„Ich bin [...] der festen Überzeugung, dass Kunst eine andere Ausdrucksform der Kommunikation darstellt und dass bestimmte Erkenntnisse aus der Meditation durch ein künstlerisches Medium direkter vermittelt werden können als durch Worte. Dies könnte eine sehr wirkungsvolle Weise sein, um Menschen zu erreichen.“

– Richard Davidson

Gesine Borcherdt: Es gibt tatsächlich viele Theorien über Ästhetik und Ethik, die zeigen, wie diametral sie einander entgegenstehen. Und doch treffen sie sich interessanterweise in der Mitte da sie unseren Körper und unseren Geist auf ähnliche Weise ansprechen – selbst wenn Kunst sehr aufwühlend und von Informationen überflutet sein kann, während Meditation offenkundig friedvoll ist und sogar völlig frei von Informationen sein kann. Beide bewirken jedoch, dass wir uns selbst und die Welt um uns herum besser wahrnehmen. Sie haben erwähnt, dass Sie mit Künstler:innen zusammenarbeiten. Wie kam das zustande?

Richard Davidson: Ich wurde von zahlreichen Künstler:innen angesprochen. In unserem Center for Healthy Minds an der University of Wisconsin – Madison hatten wir gelegentlich Künstler:innen zu Gast, die einfach mit uns Zeit verbrachten. Ich bin wie gesagt der festen Überzeugung, dass Kunst eine andere Ausdrucksform der Kommunikation darstellt und dass bestimmte Erkenntnisse aus der Meditation durch ein künstlerisches Medium direkter vermittelt werden können als durch Worte. Dies könnte eine sehr wirkungsvolle Weise sein, um Menschen zu erreichen.

Ein befreundeter Jazzmusiker und ich haben bei einer Reihe von Live-Veranstaltungen zusammengearbeitet, bei denen ich über die erste Säule des Wohlbefindens, das Bewusstsein, gesprochen habe und wie sie im Jazz verkörpert wird. Der berühmte Jazzmusiker Miles Davis sagte einmal, dass es darauf ankommt, wie man sich von seinen Fehlern erholt. Das ist eine sehr tiefe Erkenntnis! Das weist Parallelen zur Meditation auf, denn eine der Folgen der Meditationsübungen ist die Kultivierung von Resilienz – Resilienz bedeutet, dass man sich von seinen Fehlern und von Widrigkeiten generell erholt. Das ist auch in Zusammenarbeit mit Tänzer:innen sehr interessant. Wir haben einige Multimedia-Präsentationen zusammen mit Bildern des Gehirns erstellt, um die körperliche Qualität dieser Zustände zu veranschaulichen und zu zeigen, dass es sich nicht einfach um subjektive mentale Zustände handelt, sondern dass sie auf filmische Weise körperlich sind. Der Körper ist ein wichtiger Faktor in der Meditation und in der Kunst. Das Erkennen der körperlichen Qualität und die Möglichkeit, diese durch ein Medium wie den Tanz auszudrücken, kann sich als besonders wirkungsvoll erweisen, wenn es um die Wertschätzung dieser echten Interaktion zwischen Geist und Körper geht.

Gesine Borcherdt: Das ist der Aspekt, der Robert Irwin interessiert: die Wahrnehmung von Geist und Körper. Wie wir bereits ausgeführt haben, begann die Kunst in den 60er Jahren, als auch die Meditation im Westen immer beliebter wurde, sich damit zu beschäftigen. Künstler wie Irwin arbeiteten mit Raum, Licht und geometrischen Formen – sie wollten die Erzählung aus dem Kunstwerk herauslösen und den Körper der Betrachtenden ins Spiel bringen. Und die Pause war auch sehr wichtig. John Cage sprach über die Stille als Teil der Musik, Carl Andre sprach über die Leere als Teil einer Skulptur. Die physische Erfahrung des Körpers im Raum wurde zum Schlüssel der Kunstwahrnehmung und hat die Kunst nachhaltig verändert.

Richard Davidson: Die Arbeit von John Cage hat eine wunderbare Parallele in der Meditation. Dabei regen wir die Menschen oft dazu an, die Pause oder den Raum zwischen zwei Gedanken wahrzunehmen. Achten Sie auf die Lücke! Wenn man seinen eigenen Geist untersucht, wird man viele Gedanken entdecken. Und wenn man völlig wach und klar im Geist ist, gibt es Momente zwischen den Gedanken, die frei von Gedanken sind. Das ist ein kleiner Einblick in das, was eine nicht-begriffliche Wahrnehmung der Realität sein könnte.

Gesine Borcherdt: Und diese Pause bedeutet Freiheit. Freiheit von Gedanken, Freiheit der Wahl, wie es weitergehen soll.

Richard Davidson: Absolut. Freiheit. Ja.

Gesine Borcherdt: Dr. Davidson, vielen Dank für dieses Gespräch.

Dieses Interview mit Dr. Richard Davison, das von Gesine Borcherdt geführt und von Ruth Kißling, Kuratorin der Ausstellung von Robert Irwin im Kraftwerk Berlin, initiiert wurde, wurde am 21. Dezember 2021 aufgezeichnet. Ausgangspunkt für die Einladung an Dr. Richard Davidson und Dr. Tania Singer war eine Reihe von Experimenten, die Robert Irwin, James Turrell und der Experimentalpsychologe Dr. Edward Wortz 1969 im Rahmen des Art & Technology Program des LACMA in einem schalltoten Raum bei der Garrett Corporation in Los Angeles vorgenommen haben. Ziel dieser Experimente mit zahlreichen Bezügen zu Wahrnehmungspraktiken war es, ein praktisches Verständnis der Wahrnehmungsmechanismen zu erlangen und zu verstehen, wie sehr die Wahrnehmung von Kunst auf der Erfahrung Betrachtender aufbaut.

Dr. Richard Davidson ist einer der angesehensten Neurowissenschaftler unserer Zeit. Er ist vor allem für seine bahnbrechenden Arbeiten zum Thema Emotionen, Meditation und das Gehirn bekannt. Er ist ein Freund und Vertrauter des Dalai Lama und Gründer und Direktor des Center for Healthy Minds an der University of Wisconsin – Madison.


Gesine Borcherdt ist Kunstkritikerin und Kuratorin. Ein Fokus ihrer Arbeit liegt aktuell auf der Verschränkung von Kunst und Wahrnehmung, mit besonderem Augenmerk auf Kunst und Meditation und deren Auswirkungen auf unser Gehirn.

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Installation|05. Dez. 2021 - 30. Jan. 2022

Robert Irwin 'Light and Space (Kraftwerk Berlin)'